QUIÉN ES EL ÚLTIMO?

 

Ein Schuhputzer erwartet die Besucherinnen und Besucher am Eingang, lässt nur rein, wer sich sein Schuhwerk hat putzen lassen. Es ist ein Schuhputzer, wie man ihn auf den Strassen Havannas überall antreffen könnte. Ein erster Vorbote dessen, was sich dem Publikum im Innern des Langenthaler Ruckstuhlgebäudes entfaltet: Das Kuba der Gegenwart, festgehalten und ins Schweizer Mittelland verlegt durch vier Kunstschaffende, die in ihrer autonomen Arbeit und ihrem Wesen unterschiedlicher kaum sein könnten, und deren Wege sich doch immer wieder kreuzen.

Es war denn auch anlässlich eines gemeinsamen Sommerateliers von Kurt Baumann (Aarwangen, *1956), Michael Blume (Niederbipp, *1966) und Reto Bärtschi (Wangenried, *1971), die als Künstlergruppe BBB seit 2011 bereits mehrere gemeinsame Projekte realisiert hatten, als die Idee einer gemeinsamen Kubareise reifte. Eine Reise, auf der verschiedene künstlerische Projekte entstehen sollten, in deren Mittelpunkt das Leben und die Menschen stehen würden – und die durch Christian Gerber (*1944) dokumentiert sein sollte. Der heute in Locarno lebende Fotograf war bereits 1980, in einem der schwierigsten Momente des Landes in dessen jüngeren Geschichte,  längere Zeit in Kuba, wo er eine Reportage verfasste. Wie sich der Alltag der Menschen wohl seither verändert haben würde?

Gemeinsam reisten die vier Künstler Ende 2012 sodann nach Havanna, mitten ins pulsierende Zentrum des karibischen Inselstaats. Wohnten bei Bekannten in einem Plattenbau im Vorort Alamar. Pendelten mit Bus und Taxi. Knüpften Kontakte zu Künstlern, Musikern und Schauspielern. Suchten religiöse Feiern, Sehenswertes und Unscheinbares auf. Begaben sich zur Fotosession auf nächtliche Streifzüge. Und konnten ihre Eindrücke im Atelier des einheimischen Künstlers Leonardo Guillermo Márquez Martínez teils unmittelbar künstlerisch verarbeiten. 

«Quién es el último?» – «Wer ist der Letzte?» – heisst die Ausstellung in Langenthal, in der die vier Künstler jenes Kuba ihrer Reise vom Dezember 2012/Januar 2013 jetzt noch einmal sichtbar machen. Und fühlbar. Denn es ist auch die Atmosphäre Kubas, die hier zum Ausdruck kommt. Angefangen beim Titel der Ausstellung in Anlehnung an jene überall in Havanna anzutreffenden wartenden Menschenmassen, die sich nicht in Kolonnen, sondern meist lose verstreutvor dem Bankschalter, der Bäckerei oder der Busstation aufstellen, und bei denen sich jeder Neuankömmling mit der simplen Frage nach dem bisher Letzten Klarheit verschafft, nach welchem Mitwartenden er selber an der Reihe sein wird. Über den Schuhputzer am Eingang. Authentische kulturelle Darbietungen. Bis zur glanzlosen Innenarchitektur des Ruckstuhlgebäudes mit seinen verschlissenen Wänden, das so die geradezu ideale Umgebung bildet für die Objekte, Fotografien, Briefe und Installationen der vier Kunstschaffenden. 

Auch auf ihrer Kubareise sind die vier Künstler ihrem typischen Schaffen treu geblieben. Da ist die spielerische Auseinandersetzung Kurt Baumanns mit scheinbar unscheinbaren Alltagsgegenständen, die sich in der Ausstellung mit Objekten, Reliefs und Installationen aus Zigarren oder Nusstüten wiederfindet. Mit Fotografien, Objekten und Installationen rücktMichael Blume die kubanische Lebenswelt in den Fokus, öffnet als stiller Beobachter Fragefelder, ohne Antworten aufzuzwingen. Reto Bärtschi wiederum, der seine Kubaeindrücke in Malerei, Zeichnungen und Plastiken verarbeitet, setzt sich in einer Installation der «Heiligen Barbara» erneut auch mit der Bedeutung der Religion auseinander. Und schliesslich die Fotografien von Christian Gerber, der über den Reisedokumentaristen hinaus auch mit Porträtfotografien und Nachtaufnahmen der Stadt in Erscheinung tritt. Und Kuba geht weiter: Auf Einladung der vier Kubareisenden realisiert mit Lázaro Nelson Céspedes Carmona (*1991) im Mai 2014 auch ein kubanischer Maler eine Einzelausstellung im Kulturzentrum Chrämerhuus. Dem Schaffen des Kubaners, der sich in seinem Werk mit den Wünschen und Träumen seiner jungen Landsleute auseinandersetzt, soll in vorliegendem Katalog deshalb ebenfalls Beachtung geschenkt werden. 

 

Katalog zur Ausstellung

 

Langenthal, im Mai 2014        Kathrin Holzer

Die Ausstellung im Ruckstuhlgebäude in Langenthal


QUIÉN ES EL ÚLTIMO?

Mostra fotografica nello studio medico Loustalot a Locarno 02.09.2016 - 30.03.2017

KUBA IM KÜNSTERLERHAUS S11 

vom 08.06. - 08.07.2018

#2  QUIÉN ES EL ÚLTIMO?    

Die Schaukelstühle wippen im Gleichtakt. Zwei Männer sind vertieft im Dominospiel. Aus dem Innern des Bauwagens, wo kubanische Luft in Bechern konserviert neben Fotografien einer Hauptstadt im Wandel die Wände ziert, erklingt Musik. Es ist eine Szenerie, wie sie in Havanna tagtäglich anzutreffen ist, die Reto Bärtschi (Wangenried, *1971), Kurt Baumann (Aarwangen, *1956), Michael Blume (Niederbipp, *1966) und Christian Gerber (Locarno, *1944) vor wenigen Wochen für ein paar Tage auf den Langenthaler Wuhrplatz zauberten. Wie sie die vier Kunstschaffenden auf ihrer anschliessenden Reise nach Solothurn in einigen Oberaargauer Dörfer erzeugten. Und wie sie sie jetzt auch in der Ambassadorenstadt erlebbar machen. Es wäre nicht das erweiterte Künstlerkollektiv BBB, hätte dieses seine Ausstellung im Künstlerhaus S11 ganz ohne ein solches Vorspiel angegangen. Schon der Prozess bis zur eigentlichen Werkschau ist immer wieder Kunstwerk an sich. Die Reise damit auch im übertragenen Sinne das Ziel.

So war es auch, als die vier Kunstschaffenden Ende 2012 zur gemeinsamen Kubareise aufgebrochen sind. Es waren erste Eindrücke vom Land, seinen Bewohnern und seinen Herausforderungen, die sie während des Aufenthaltes im karibischen Inselstaat, jeder für sich und doch im steten Austausch, künstlerisch umsetzen. Das Kuba dieser Zeit des Aufbruchs sollte sie aber auch in den darauffolgenden Monaten und Jahren noch stark beschäftigen. Ein Land zwischen Armut und Hoffnung, seine gescheiterten Idole und neuen Ideale sowie eine aller Widrigkeiten zum Trotz scheinbar ungetrübte Lebensfreude waren es denn auch, die im Mittelpunkt standen der gemeinsamen Ausstellung «Quién es el último?»  2014 im Langenthaler Ruckstuhlareal. 

«Wer ist der Letzte?», wie sich die Menschen in Havanna in der wartenden Masse vor Banken, Busstationen, Lebensmittelläden jeweils erkundigen, nach welchem Mitwartenden die Reihe an ihnen sein wird, fragen Reto Bärtschi, Kurt Baumann, Michael Blume und Christian Gerber nun also auch im Solothurner Künstlerhaus. Weitere Kubareisen, andere Eindrücke, und mit Lázaro Nelson Céspedes Carmona (*1991) ebenso die Innensicht eines jungen kubanischen Kunstschaffenden sind hinzugekommen, bereits Bestehendes wurde weiterentwickelt, neue Werke sind entstanden oder im Begriff zu entstehen. Sie erzählen von einem Kuba, wie es einmal war und was daraus geworden ist. Von neuen Freiheiten und Möglichkeiten. Von Frust aber auch und unerfüllten Träumen. Da sind die Objekte und Installationen von Kurt Baumann, genussvolle Hommagen an den kubanischen Lebensstil und Erfindergeist mit stets auch politischem Unterton. Die Fotografien von Christian Gerber, der Kuba 1980 mit dem Journalisten Stefan Frey von der Solothurner AZ bereist hat und die damals entstandenen Aufnahmen nun denjenigen seiner letzten Reise gegenüberstellt. Da ist Reto Bärtschi, der seine Eindrücke von Kuba zeichnerisch umsetzt, im stillen Kämmerlein ebenso wie in der Öffentlichkeit des Künstlerhauses selber. Und da ist Michael Blume, der sich in seinen Objekten und Fotografien nicht nur mit dem Land und dessen aktueller Politik auseinandersetzt, sondern ebenfalls vorauszuschauen wagt in ein Kuba, wie es in 20 bis 30 Jahren einmal sein könnte. Ein Land, dessen jüngste Reise eben erst begonnen hat. 

Langenthal, im Mai 2018           Kathrin Holzer